Zielbereich 1 | Digitale Welt

Digitalität als Kulturphänomen im Unterricht


Die digitale Transformation verändert unsere Gesellschaft seit ihrem Beginn im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts grundlegend und wird auch in den nächsten Jahren maßgeblicher Treiber technologischer und gesellschaftlicher Veränderungen bleiben. In der postdigitalen Lebenswelt der Lernenden sind die Grenzen zwischen „analog“ und „digital“ aufgelöst. Diese unterscheidet sich daher oft von der wahrgenommenen Lebensrealität der Lehrpersonen. Dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und die Lebenswelt der jungen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, ist ein wesentliche Faktor für zeitgemäße Bildung und stellt damit einen zentralen Zielbereich des Orientierungsrahmens dar.

Die Lebenswelt im 21. Jahrhundert ist digital

Der Zielbereich Digitale Welt steht in enger Verbindung mit dem allgemeindidaktischen Prinzip des Lebensweltbezugs. Nach Klafki kommt Bildung die Aufgabe zu, „auf gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungsmöglichkeiten nicht nur zu reagieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt der pädagogischen Verantwortung für gegenwärtige und zukünftige Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten jedes jungen Menschen der nachwachsenden Generation [...] zu beurteilen und mitzugestalten“ (Klafki, 2007, S. 50f). Der Bezugspunkt hierfür ist also die gesellschaftliche Realität, in der sich die Lernenden befinden. 

An die Seite dieses gesellschaftlich-partizipativen Verständnisses von Lebensweltbezug tritt der motivational-theoretische Ansatz von Keller. Dieser sieht im Lebensweltbezug eine Möglichkeit, die Motivation der Lernenden zu steigern und somit positiv zum Lernerfolg beizutragen. Im Zentrum steht dabei die Frage, welchen subjektiven Wert der Lernende dem Lerngegenstand zumisst (Keller, 2010). Der Lebensweltbezug zu den Lernenden wird in diesem Fall hergestellt, indem an ihre persönlichen Ziele, individuellen Interessen und Erfahrungen angeknüpft wird.

Unabhängig davon, welchem Verständnis von „Lebensweltbezug“ man sich hier anschließt, trägt der Zielbereich Digitale Welt dazu bei, dieses Prinzip umzusetzen. Denn die Lebenswelt im 21. Jahrhundert ist durchgehend von der Digitalisierung geprägt. Daher betrifft das explizite Aufgreifen von Themen und Formaten der von der Digitalisierung geprägten Welt gleichermaßen die individuelle wie auch die gesellschaftliche Lebenswelt der Lernenden. Das ist darin begründet, dass die digitale Transformation und damit einhergehende Veränderungen unserer Lebensgewohnheiten sowohl massive Auswirkungen auf das Individuum als auch auf die Gesellschaft haben. 

So knüpft eine Digitale Lernaufgabe, die sich beispielsweise im Fach „Politik und Gesellschaft“ im Kontext des Themengebietes „Meinungsäußerung“ mit dem Thema „Hassrede im Netz“ befasst, zum einen an den damit verbundenen gesellschaftlichen Diskurs an und macht diesen zum Unterrichtsgegenstand. Zum anderen kann dieser Aufgabe auch durch die Lernenden subjektive Bedeutung beigemessen werden, da davon auszugehen ist, dass ein Großteil davon in sozialen Netzwerken bereits mit diesem Phänomen in Kontakt gekommen ist (LMNRW, 2021).

Transformation mit unterschiedlichem Tempo

Der Leitmedienwechsel weg vom Buch hin zu vernetzten Computersystemen, der bereits in den 1980er Jahren begann, ist in der Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler bereits vollständig vollzogen. Da wir uns jedoch noch inmitten dieses Transformationsprozesses befinden, lässt sich die Lebensrealität der Lernenden oft nicht mit der Lebensrealität der Lehrkräfte gleichsetzen. Dies zeigt sich rein quantitativ daran, wie lange Menschen pro Woche das Internet nutzen bzw. angeben, „online“ zu sein.

Wöchentliche Online-Zeit (in. Std.) | Quelle: Postbank Digitalstudie 2021

Der generationsspezifische Blickwinkel auf die Digitalisierung bzw. Digitalität ist häufig aber auch qualitativ sehr unterschiedlich. Während ältere Bevölkerungsgruppen digitale Techniken meist nur als Arbeitsinstrument oder Informationsquelle nutzen, stellen sie für Menschen, die mit dem Smartphone aufgewachsen sind, einen fundamentalen Bereich ihres persönlichen und kulturellen Lebens dar (Keuchel, 2020). Analoge und digitale Welten sind dabei zu einer Einheit verschmolzen, in der „Digitales nur durch seine Ab- und nicht Anwesenheit bemerkt“ wird (Negroponte, 1998). 

Welchen Stellenwert das Digitale im 21. Jahrhundert und im Besonderen für die Lernenden besitzt, muss uns als Lehrkräften klar sein – unabhängig davon, wie sehr die individuelle Lebensrealität durch diese Transformation beeinflusst ist. Damit verbunden ist der Appell, sich mit der Lebensrealität der jungen Menschen auseinanderzusetzen. An dieser Stelle sei auf den Referenzrahmen DigCompEdu Bavaria verwiesen, der Lehrkräften Orientierung bei der Einschätzung der eigenen digitalen und medienbezogenen Kompetenzen bietet.

Mit dem DigCompEdu Bavaria stellt das Bayerische Kultus­ministerium allen bayerischen Lehrkräften einen Referenz­rahmen bereit, der ihnen zur Orientierung bei der Einschätzung der eigenen digitalen und medienbezogenen Kompetenzen dient. 

Kultur der Digitalität im Untericht

Grafik: Beat Honegger-Doebeli


Durch die zunehmende Bedeutung des Digitalen findet ein Transformationsprozess statt, der zu einem Zustand führt, den Felix Stalder als „Kultur der Digitalität“ bezeichnet. Diese „Kultur der Digitalität“ baut auf den drei Kategorien der Gemeinschaftlichkeit, der Referenzialität und der Algorithmizität auf. Sie beinhaltet auch eine sich stetig verändernde digitale Realität, welche sich in neuen Handlungsweisen zeigt, die sich auf den kulturellen, sozialen und beruflichen Bereich beziehen. Durch diese werden wiederum neue Digitalisierungsprozesse ausgelöst (Doebeli, 2020).

Mehr zur Kultur der Digitalität

Das Aufgreifen dieser „neuen Handlungsweisen“ im Unterricht aller Jahrgangsstufen wird auch von der Kultusministerkonferenz im Strategiepapier „Lehren und Lernen in einer digitalen Welt“ (KMK, 2021) gefordert:

Digitalität geht mit vielfältigen Veränderungen der Kommunikationspraxis, der sozialen Strukturen und der Identitätsmodelle sowie mit der Mediatisierung und der Visualisierung von Lerngegenständen einher und wird von neuen Handlungsroutinen geprägt, die schon für Unterrichtsprozesse ab Beginn der Primarstufe relevant sind. Die Digitalität wirkt sich somit sowohl durch spezifisch das Fach betreffende Entwicklungen als auch durch den Einbezug von sozialen und kulturellen Beziehungen auf das Unterrichtsgeschehen aus.  (S.3)


Veränderungen der Kommunikationspraxis zeigen sich nicht erst seit der Corona-Pandemie, in der virtuelle Treffen (mit all ihren Konventionen und zu bewältigenden Problemen) einen deutlich höheren Stellenwert erlangt haben. Sie zeigen sich beispielsweise auch in der Art und Weise, wie Reaktionen auf journalistische Beiträge öffentlich vorgebracht werden. So werden heutzutage nur noch selten Leserbriefe verfasst. Eine argumentative Auseinandersetzung findet zumeist in entsprechenden Foren einer Online-Zeitung oder direkt in der Kommentarspalte eines Beitrags oder in sozialen Netzwerken statt. Es entstehen neue Textsorten wie Blogbeiträge oder Formen des Erzählens, etwa „Digital Storytelling“ oder Video-Blogs. 

Zur Entschlüsselung codierter Informationen, wie sie zum Beispiel in Memes transportiert werden, ist eine Kenntnis bestimmter Handlungsweisen bzw. digitaler Kulturtechniken grundlegend. Der Rückgriff auf solche Kulturtechniken der „Kultur der Digitalität“ und das Einbeziehen authentischer digitaler Materialien stellen damit zentrale Elemente bei der Konzeption lebensweltbezogener Aufgabenstellungen dar. Im Zielbereich Peergroup spielen zudem die Veränderungen in der sozialen Struktur eine bedeutsame Rolle und werden im entsprechenden Beitrag ausführlich dargestellt. 

Notwendige Kompetenzen für die Bewältigung der sozialen Umwelt

„Handlungskompetenz wird verstanden als die Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten“ (KMK, 2011). Diese allgemeine Handlungskompetenz setzt sich aus Sozialkompetenz, Selbstkompetenz, Sachkompetenz und Methodenkompetenz zusammen. 

In einer zunehmend mediatisierten Welt spielt in allen vier Teilkompetenzen die persönliche Medienkompetenz eine entscheidende Rolle. Daher wird deren Aufbau seit Beginn der Medienkonzept-Initiative im Schuljahr 2017 an bayerischen Schulen systematisch gefördert (mebis, 2019) Die Fähigkeit, kompetent digital zu handeln, stellt zudem ein übergreifendes Handlungsfeld des Konzepts „Alltagskompetenzen – Schule fürs Leben“ dar.

Handlungsfeld Digital handeln als Querschnitts-Handlungsfeld "Alltagskompetenzen - Schule fürs Leben" (ISB)

Demzufolge ermöglicht das Aufgreifen von Themen und Phänomenen der digitalen Welt nicht nur die Anknüpfung von Aufgabenstellungen an die Lebensrealität der Lernenden, sondern trägt auch direkt dazu bei, Medienkompetenz und digitale Handlungskompetenz aufzubauen, um den (digitalen) Alltag souverän zu bewältigen und sich zu einem handlungsfähigen Mitglied einer (post-)digitalen Gesellschaft zu entwickeln. Diesen Umstand aufgreifend folgt der Zielbereich Digitale Welt der Definition des Begriffs „digitale Bildung“ von Kerres von 2018: 

Bildung wäre dann zu betrachten als eine Kompetenz, die dazu beiträgt, gesellschaftliche Anforderungen in einer ‚von der digitalen Technik geprägten Welt‘ zu bewältigen. Sie lässt sich dabei nicht auf eine Liste von geforderten Wissensbeständen oder Fertigkeiten in der Bedienung digitaler Technik reduzieren, sondern muss grundlegendere Fähigkeiten in der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen vermitteln. (S. 73)


Die digitale Welt im Klassenzimmer

Auch die KMK schließt sich der Forderung Kerres‘ an und ruft dazu auf, den Blick auf Bildungsprozesse zu erweitern: „In der Kultur der Digitalität müssen Bildungsprozesse auch solche Herausforderungen in den Blick nehmen, die sich aus dieser selbst sowie altersspezifisch und konkret aus den medialen Lebenswelten der Lernenden ergeben” (KMK, 2021, S. 6). Der Zielbereich Digitale Welt des Orientierungsrahmens soll Ihnen dabei helfen, derartige Bildungsprozesse in Ihrem eigenen Unterricht zu initiieren.  

Zielbereich 1:  Die Aufgabe greift Themen und Formate der von der Digitalisierung geprägten Welt auf.

Um den Erwerb neuer bzw. den Ausbau vorhandener Kompetenzen zu ermöglichen, werden die Lernenden mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen im Unterricht konfrontiert, indem diese anhand konkreter fachlicher Themen Eingang in Digitale Lernaufgaben finden. Bei der Konzeption solcher Aufgaben wird der fachspezifische Inhalt in Verbindung zu Problemen, Techniken und Themen der von der Digitalisierung geprägten Welt gesetzt. Dabei kann nicht nur das behandelte fachliche Problem der von der Digitalisierung geprägten Welt entstammen, sondern auch das eingesetzte Material. 

1.1. Lebensnahes digitales Material

Statt künstlich erzeugtem Lernmaterial, erhalten Lernende mit Digitalen Lernaufgaben Originalinhalte, die in der Regel in digitaler Form verfügbar sind. Bei diesen authentischen digitalen Materialien handelt es sich also nicht um Digitalisate analoger Inhalte, wie etwa PDF-Versionen von Arbeitsblättern oder Ausdrucke von Online-Artikeln, sondern um solche Inhalte, die originär mit dem Ziel einer digitalen Veröffentlichung erstellt werden und digital abgerufen werden können. Dazu gehören beispielsweise Texte, Grafiken und audiovisuelle Medien, wie sie auf Webseiten von Online-Zeitungen zu finden sind. Online-Artikel sind oft dadurch gekennzeichnet, dass sie über Hyperlinks mit weiteren Inhalten verknüpft sind und Grafiken, Videos oder Audio-Beiträge miteinander kombinieren. Ein Ausdruck des reinen Textes eines solchen Beitrags geht oft mit einer starken inhaltlichen Reduktion des Informationsgehalts einher.

Neben journalistischen Web-Angeboten stellen auch andere, offen verfügbare Inhalte geeignete Materialquellen für den Unterricht dar. Beispiele für weitere authentische digitale Texte sind offizielle Webseiten von staatlichen und nicht staatlichen Organisationen, Wiki-Einträge inklusive Versionsdiskussion und Blogbeiträge. Ergänzt wird diese Vielzahl an textbasierten informativen Inhalten durch Videos und Podcasts, interaktive Grafiken oder Simulationen.

Eine weitere lebensnahe Materialquelle stellen appellative Texte und Inhalte wie Social-Media-Posts (mit dazugehörigen Hashtags), Kommentare in Foren oder GIFs und Memes dar. Auch von der Lehrkraft erzeugte digitale Inhalte, die mit dem Ziel der Veröffentlichung über das Internet erstellt wurden, zählen dazu. Authentische digitale Formate eignen sich nicht nur als Lerngegenstand, sondern werden im Zielbereich Weg & Ziel auch als Lernprodukt präsentiert.

1.2. Themen und Probleme der von der Digitalisierung geprägten Welt

Digitale Lernaufgaben fordern die Lernenden dazu auf, Lösungen für fachliche wie fächerübergreifende Themen und Problemstellungen im Kontext der von der Digitalisierung geprägten Welt zu erarbeiten.

Die Bandbreite denkbarer Problemstellungen reicht dabei etwa von pädagogisch-psychologischen Problemstellungen (z. B. Cybermobbing, Selbstdarstellung im Netz), über technische Herausforderungen (z. B. Big Data, Algorithmizität), wirtschaftliche Aspekte (z. B. Social-Media-Marketing, Arbeitswelt 4.0, Internet der Dinge), bis hin zu politisch-kulturellen Entwicklungen (z. B. direkte Demokratie durch Online-Beteiligung, Fake News) und rechtlichen Themen (z. B. Recht auf informationelle Selbstbestimmung, „Digital Human Rights“). Dabei ist ein möglichst enger fachlicher Bezug zum thematisierten Problemfeld zu empfehlen

Konkrete Umsetzung in Beispielaufgaben

#whomademyclothes

Mit der Digitalen Lernaufgabe beteiligen sich die Schülerinnen und Schüler am authentischen digitalen Diskurs zu den negativen Folgen der globalen Modeindustrie – ausgehend vom Hashtag #whomademyclothes. Die jährlich stattfindende „fashion revolution week“, bei der dieser Hashtag verwendet wird, bietet einen aktuellen Anlass für die Auseinandersetzung mit der Thematik.

Zur Aufgabenbeschreibung

Ada Lovelace

Der kompakte Kurs „Ada Lovelace“ sensibilisiert für und lehrt die Schülerinnen und Schüler den Umgang mit geistigem Eigentum. Beim Erstellen eines Profils und dem Posten von Nachrichten achten die Lernenden auf das Copyright der Materialien. Die Social-Media-Plattform wird im geschützten mebis-Kurs simuliert und bleibt dennoch nah an den alltäglichen Erfahrungen der digitalen Welt der Schülerinnen und Schüler.

Zur Aufgabenbeschreibung

QR-Code-Bruchteil-Rallye

Die Lernenden absolvieren nach der Erarbeitung der Fachinhalte eine QR-Code-Rallye, eine Art Schnitzeljagd mit mobilen Endgeräten, bei der sie die geübten Kompetenzen im spielerischen Wettkampf zeigen müssen. Abschließend erstellen die Lerngruppen eine eigene Rallye mit selbst erstelltem Material und QR-Codes. QR-Codes sind aufgrund ihrer lizenz- und kostenfreien Verwendung weit verbreitet: Von der Fahrplanauskunft im ÖPNV, über Werbung, bis hin zum Zahlungsverkehr sind QR-Codes Teil der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler. 

Zur Aufgabenbeschreibung


Max Auburger
Fachreferent Mediendidaktik



Empfohlene Zitierweise

Auburger, M. (2022). Zielbereich Digitale Welt - Digitaltät als Kulturphänomen im Unterricht. In: Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (ISB) (Hrsg.), ISB-Info "Digitale Lernaufgaben". Verfügbar unter: https://isb-magazin.de/digitale-lernaufgaben/zielbereich-digitale-welt

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