Zielbereich 2 | Individuum

Heterogenität als lösbare Herausforderung


Wie wird mein Unterricht einer Gruppe von Lernenden mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen, Eigenschaften und Interessen gerecht? Das Problem der Heterogenität ist kein neues – schon vor 200 Jahren wurden Schülerinnen und Schüler in heterogenen Lerngruppen unterrichtet. Eine Lehrkraft stand vor einer jahrgangsübergreifenden Volksschulklasse, die zahlenmäßig weitaus größer war als heutige Lerngruppen. Auch Antworten auf diese Herausforderung gibt es schon länger, etwa von Reformpädagoginnen und Reformpädagogen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Differenzierung mit digitalen Medien eröffnet indes gänzlich neue Möglichkeiten.

Individualisierung als Phänomen demokratischer Gesellschaften

In pluralistischen Gesellschaften, wie sie in modernen Demokratien zu finden sind, spielt das Individuum eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Beseitigung von Nachteilen gehören nicht ohne Grund zum Kern des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (Art 2 GG, Art 3 GG). Das Streben nach Autonomie und Freiheit jeder und jedes Einzelnen ist auch eine Triebfeder der Innovation, durch die sich vermeintlich starre gesellschaftliche Normen beständig weiterentwickeln. Zukunftsforscher sehen in der Individualisierung schon seit Jahrzehnten einen „Megatrend“ (Naisbitt, 1982), der Soziologe Ulrich Beck beschreibt sie als „Kennzeichen moderner Industriegesellschaften“ (Böhnisch, 2012).

Auch wenn die Herausforderung heterogener Lerngruppen im schulischen Kontext schon seit Langem besteht, hat ihre Bedeutung in den letzten Jahren weiter zugenommen: Es gilt, Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Interessen, verschiedenen Bildungshintergründen der Elternhäuser und damit einhergehenden Unterstützungssystemen sowie Lernende mit spezifischen Bedürfnissen, wie zum Beispiel Hochbegabung, LRS, ADHS oder Autismus, gleichermaßen im Lernprozess zu motivieren und zu unterstützen. Individualisierung ist daher auch eines der zentralen Qualitätskriterien guten Unterrichts (Graumann, 2012). Digitale Lernarrangements können dabei unterstützen und liefern Antworten für den Umgang mit heterogenen Lernvoraussetzungen und Möglichkeiten der individuellen Unterstützung. Ziel sollte es sein, Lernende durch Selbstreflexion und Selbststeuerung des Lernprozesses dazu zu befähigen, die Möglichkeiten des Lernens in der digitalen Welt für die eigene Entwicklung zu nutzen (KMK, 2021).

Individualisierung im Unterrichtskontext

Die Umsetzung der Individualisierung im Unterricht, also die „didaktische Orientierung an der Lern- und Leistungsfähigkeit des Einzelnen“ (Ternoth & Tippelt, 2012), gelingt durch das Implementieren unterschiedlicher Maßnahmen. In Bezug auf heterogene Lerngruppen ist in diesem Zusammenhang auch von innerer Differenzierung bzw. Binnendifferenzierung die Rede. Diese bezieht sich unter anderem auf Lerninhalte und Lernziele, Methoden und Medien, Sozialformen, Lernzeit sowie Lernhilfe (Graumann, 2012). 

Binnendifferenzierung: Darstellung in Anlehnung an Graumann (2012)

Individualisierung mit intelligenten tutoriellen Systemen

Die Entwickler von Apps und Web-Anwendungen haben das Thema Individualisierung als Geschäftsmodell entdeckt. Auf dem Markt sind bereits digitale Lernangebote vorhanden, die Schwierigkeiten der Lernenden erkennen und darauf individuell reagieren. Im deutschsprachigen Raum sind solche Programme vor allem in den Sprachen und in der Mathematik dank Machine-Learning auf einem guten Niveau. Solche Systeme sind vor allem für den privaten Bereich als Ergänzung zum Unterricht konzipiert, gewissermaßen als elektronischer Nachhilfelehrer, können aber ggf. auch im Unterricht eingesetzt werden. Studien zeigen, dass die Effekte für digitale Medien, die unmittelbar mit dem Unterricht verknüpft sind, deutlich größer sind (Fischer, Wecker & Stegmann 2015). Zudem handelt es sich zumeist um Übungsprogramme, etwa zum Einüben und Wiederholen von Vokabeln. Untersuchungen zeigen, dass die Effekte digitaler Medien aber dann besonders groß sind, wenn die Lernenden sich aktiv und konstruktiv betätigen (Fischer et al., 2015). Für den unterrichtlichen Einsatz eignen sich solche Angebote aus rechtlichen Gründen ohnehin meist nicht, da sie beachtliche Mengen personenbezogener Daten über die Lernenden sammeln und für wirtschaftliche Zwecke weiternutzen. 

Ein nicht zu unterschätzender Faktor beim Lernen mit digitalen Medien ist die Begleitung durch die Lehrkraft – auch beim selbstgesteuerten Lernen. Eine persönliche Unterstützung sowie direktes Feedback durch die Lehrkraft sollte in jedem Fall mit bedacht werden. Das ist auch im Rahmen von Lernmanagementsystemen wie Moodle bzw. der mebis Lernplattform möglich. Solche Systeme ermöglichen das Bereitstellen von nach Schwierigkeit differenzierten Aufgaben und Materialien, bieten einfache Lösungen für eine individuelle Lernzeit und weitere Ansätze der Individualisierung. Häufig sind hier bereits Materialien anderer Lehrkräfte für den Unterrichtseinsatz vorhanden und müssen nicht immer selbst entwickelt werden. Das Nutzen vorhandener Materialien und automatisierter Prozesse ist jedoch keinesfalls der Beginn des Wegrationalisierens der Lehrkräfte. Lernsoftware soll Lehrende vielmehr unterstützen, beispielsweise durch das Übernehmen einfacher, automatisierbarer Feedbackprozesse. Auf diese Weise entsteht mehr Raum für individuelles Feedback zu komplexeren Lernleistungen, welches der fachlichen und pädagogischen Expertise der Lehrkraft bedarf.

Differenzieren mit digitalen Medien 

Im Rahmen einer Digitalen Lernaufgabe sind verschiedene Möglichkeiten der Differenzierung denkbar. Ausführliche Informationen zum Differenzieren in der Praxis finden Sie in einem Beitrag aus dem Thema im Fokus Differenzieren mit digitalen Medien des mebis Infoportals.

Zum Thema im Fokus


Wirksamkeit der Individualisierung im Unterricht

Lösungsansätze für die Herausforderungen des Unterrichtens in heterogenen Lerngruppen werden aus wissenschaftlicher Sicht benannt und auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. Dabei wird neben Individualisierung oft von Differenzierung gesprochen, wobei in diesem Zielbereich vor allem die innere Differenzierung oder Binnendifferenzierung zum Tragen kommt. Einen Überblick über die Studien, die die Wirksamkeit der Individualisierung auch hinsichtlich des Einsatzes digitaler Medien belegen, ist im mebis Infoportal zu finden.

Individuelle Lernprozesse mit Digitalen Lernaufgaben ermöglichen

In der Empfehlung „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“ der KMK sind neun konkrete Lernpotenziale (KMK, 2021) beschrieben, die sich auch dezidiert auf Aspekte der Individualisierung beziehen:

      

    Digital gestützte Lehr-Lern-Prozesse ermöglichen den Lernenden, vermehrt inhaltlich und methodisch unterschiedliche Lernpfade zu beschreiten. Dabei können Individualität und Kreativität eine besondere Rolle einnehmen.  

      

    Zeitnahe individuelle Rückmeldungen sowie Feedback zu Lernprozessen und Lernergebnissen bis hin zu Rückmeldungen aus dem Einsatz diagnostischer Instrumente sind zentral für erfolgreiches Lernen. Computergestützte, interaktive und sanktionsfreie Rückmeldungen können durch Adaptivität das individualisierte Üben gezielt unterstützen.

Zielbereich 2:  Die Aufgabe fördert individuelle Lernprozesse.

Die Konzeption Digitale Lernaufgaben, die den Zielbereich Individuum in den Fokus nehmen, berücksichtigt die Bedürfnisse der einzelnen Lernenden und passt sich diesen an. Beispielsweise erhalten die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, welche Lerninhalte sie zu welchen Zeiten bearbeiten. Oder sie beschreiten adaptive Lernpfade und erhalten individuelles Feedback – persönlich oder automatisiert.

2.1. Selbstständige Bestimmung von Lernort, -tempo und -zeitpunkt

Eine Möglichkeit der Individualisierung besteht in der offenen Gestaltung des organisatorischen Rahmens einer Digitalen Lernaufgabe. Während die Lehrkraft diesen Rahmen klar strukturiert vorgibt und bereits vorab eine sinnvolle Begleitung der Lernenden einplant, kann die Umsetzung sowohl im Rahmen des Unterrichts als auch ganz oder teilweise außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeit stattfinden. Durch ein offenes Setting erhalten die einzelnen Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, sich innerhalb des gesteckten Rahmens unterschiedlich lange mit der Aufgabe zu beschäftigten. Bei der Konzeption sollte mitgedacht werden, mit welchen Endgeräten letztlich gearbeitet wird und ggf., ob jeder und jedem Lernenden ein Internetzugang zur Verfügung steht. Das ist insbesondere dann relevant, wenn Arbeitsphasen außerhalb des Klassenzimmers oder sogar außerhalb der Schule, im häuslichen Bereich, stattfinden.

Variationsmöglichkeiten des Lernsettings bieten sich bereits im Präsenzunterricht an, etwa durch Stillarbeits- oder Gruppenarbeitsphasen im Lernhausprinzip oder in Form einer Wochenplanarbeit. Materialien, die in einer digitalen Lernumgebung bereitgestellt werden, können aber grundsätzlich an jedem gewählten Lernort mit Verbindung ins Internet abgerufen werden. Dabei muss es sich nicht immer um individuell zu bearbeitende Aufträge handeln. Entscheidungsmöglichkeiten, wie lange und wann sich mit einer Aufgabe beschäftigt wird, können in Einzel- oder auch Gruppenunterrichtsphasen geboten werden.

2.2. Autonomie bei der Wahl der Lerninhalte bzw. der Lernziele

Die offene Konzeption Digitaler Lernaufgaben bietet den Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten zur individuellen Schwerpunktsetzung. Echte Entscheidungsfreiheit innerhalb eines Lernprozesses steigert die Freude am Arbeiten und wirkt motivierend. Um das zu ermöglichen, sind verschiedene Ansätze denkbar.

  • In einer arbeitsteilig angelegten Digitalen Lernaufgabe können die Lernenden sich für eine Teilaufgabe entscheiden. Dabei sind die verschiedenen Teilaufgaben nicht im Wesentlichen gleich, sondern stellen echte Alternativen zueinander dar. Beispielsweise könnten die Lernenden an einem gemeinsamen Lernprodukt wie einem Erklärvideo mitarbeiten, für das verschiedene Teilbeiträge erstellt werden müssen oder bei dem unterschiedliche Rollen zu übernehmen sind.
  • Alle Schülerinnen und Schüler bearbeiten dieselbe Aufgabenstellung, wenden diese jedoch auf unterschiedliche Ausgangsmaterialien an, für die sie sich jeweils selbst entscheiden. In der Naturwissenschaft Chemie könnte hier beispielsweise ein vorgestellter Reaktionstyp anhand einer Auswahl unterschiedlicher Reaktionen selbst nachvollzogen werden.
  • In einem weiteren Setting bearbeiten alle Lernenden dasselbe Ausgangsmaterial. Sie wählen dabei zwischen unterschiedlichen Aufgaben, die sich jeweils auf das Ausgangsmaterial beziehen. Dabei verfolgen die Aufgaben trotz des gemeinsamen Materials unterschiedliche Lernziele bzw. Kompetenzerwartungen. In sprachlichen Fächern könnte derselbe Ausgangstext beispielsweise von einer Schülergruppe grammatikalisch und von einer weiteren stilistisch analysiert werden, eine dritte könnte den Text als Ausgangspunkt einer eigenen Textproduktion nehmen.

2.3. Individuelle Lernwege und individuelle Unterstützung bei der Bearbeitung von Aufgaben

Digitale Lernaufgaben, die mit Lernpfaden in Lernmanagementsystemen umgesetzt werden, bieten die Möglichkeit, automatisierte und zugleich differenzierte Lösungshinweise auf die Eingabe der Lernenden zu geben. In der Folge kann auf den Lern- bzw. Leistungsstand angepasste Lernpfade geleitet werden. Ebenso können Lernwege auch von vorneherein in Abhängigkeit vom Stand der Fähigkeiten und Fertigkeiten des Lernenden vorgegeben werden.

Mit abgestuften Lernhilfen kann in einer digitalen Lernumgebung individuelle Unterstützung angeboten werden: Die Schülerinnen und Schüler entscheiden sich während der Bearbeitung der Aufgabe bewusst dafür, eine angebotene Hilfestellung anzunehmen oder ohne sie weiterzuarbeiten. Sie lernen dadurch auch, ihre Leistung selbst besser einzuschätzen und zu bewerten, ob oder wie viele zusätzliche Hinweise oder weiterführende Materialien für sie notwendig sind.


Gestufte Lernhilfen (Symbolbild), Internet-Meme von Craig

Selbstgesteuertes Lernen sollte angepasst an die Lerngruppe vorab eingeführt und im Folgenden eingeübt werden. Dementsprechend sollte der Grad der Autonomie an die Vorerfahrungen der Lerngruppe angepasst werden. Durch den multimedialen Charakter digitaler Lernumgebungen besteht zudem die Möglichkeit, die Lerninhalte bzw. Gegenstände an die verschiedenen Bedürfnisse anzupassen. Vor allem audiovisuelle Inhalte stellen hier eine sinnvolle Ergänzung der textbasierten Informationsvermittlung dar.

Konkrete Umsetzung in Beispielaufgaben

Créer une BD

In der Digitalen Lernaufgabe Créer une BD erstellen die Schülerinnen und Schüler mithilfe einer App ein digitales Comicbuch. Die Aufgabe motiviert dazu, sprachreflexiv die eigenen sprachlichen Kompetenzen zu erweitern. Das Ziel ist, am Ende der Unterrichtseinheit die eigene Meinung zu den Werken aus der Klasse in der Fremdsprache auszudrücken und die Online-Veröffentlichung eines eigenen Comics zu meistern. Die Aufgabenstellung stärkt die Lernerautonomie sowohl im sprachlichen als auch im digitalen Kompetenzbereich.

Zur Aufgabenbeschreibung

Chemische Reaktionen

Im Rahmen eines Selbstlernkurses erhalten die Schülerinnen und Schüler eine Forschungsfrage, die in Form eines Schülergesprächs als Video präsentiert wird. Ausgehend davon wählen die Lernenden einen Versuch aus, der ihnen zusagt, und sehen sich eine Anleitung dazu in Form eines Erklärvideos an. Anschließend führen die Schülerinnen und Schüler den gewählten Versuch selbst mit Haushaltsmitteln durch und dokumentieren die Ergebnisse Schritt für Schritt über ein digitales Dokumentationstool. Die Begleitung findet in Form eines Forums statt. Am Ende fasst die Klasse die einzelnen Versuche kollaborativ zusammen, die Lernenden erkennen dabei Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Versuche.

Zur Aufgabenbeschreibung

Weitere Beispiele

Der Zielbereich 2 Individuum spielt auch bei vielen anderen Beispielaufgaben eine Rolle, in deren Zentrum andere Zielbereiche stehen.

So erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler bei der Digitalen Lernaufgabe Ada Lovelace im Rahmen eines Selbstlernkurses zunächst eigenständig und im eigenen Tempo, was bei einer Internetrecherche in Bezug auf das Urheberrecht zu beachten ist. Die Anwendung des erworbenen Wissens findet dann im Anschluss im Rahmen eines simulierten sozialen Netzwerks kooperativ statt.

Die Aufgabe Sakralarchitektur weltweit deckt alle Zielbereiche Digitaler Lernaufgaben ab. Auch hier ist eine Individualisierung im Rahmen des eigenständigen Erarbeitens der Inhalte konzeptionell mitberücksichtigt.

Die QR-Bruchteil-Rallye sieht ein Training im eigenen Lerntempo in einer ersten Phase der Digitalen Lernaufgabe vor, bei der die Lernenden selbstständig interaktive Aufgaben bearbeiten.

Iris Luber
Fachreferentin Mediendidaktik

Jochen Arlt
Fachreferent Mediendidaktik



Empfohlene Zitierweise

Luber, I. & Arlt, J. (2022). Zielbereich Individuum - Heterogenität als lösbare Herausforderung. In: Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (ISB) (Hrsg.), ISB-Info "Digitale Lernaufgaben". Verfügbar unter: https://isb-magazin.de/digitale-lernaufgaben/zielbereich-individuum

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