Schulentwicklung und herausforderndes
Verhalten – eine Einordnung
Der Förderbedarf „emotionale und soziale Entwicklung (esE)"
Schülerinnen und Schüler, die herausforderndes Verhalten zeigen, haben oft den Förderbedarf „emotionale und soziale Entwicklung (esE)“. Für diesen Förderbedarf gibt es einerseits spezielle Förderzentren zur emotionalen und sozialen Entwicklung. Andererseits besuchen diese Schülerinnen und Schüler – neben allen Schularten – aber insbesondere auch Sonderpädagogische Förderzentren (SFZ), die für die „Trias“ der Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung zuständig sind. Alle drei Förderschwerpunkte können sich in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bedingen.
Verhaltensauffälligkeiten als zentrale Herausforderung
An Sonderpädagogischen Förderzentren und Förderzentren zur emotionalen und sozialen Entwicklung gehört der Umgang mit herausforderndem Verhalten zur täglichen Arbeit. Abhängig von der Intensität, Häufigkeit und Gerichtetheit des gezeigten herausfordernden Verhaltens und der Wirksamkeit der pädagogischen Maßnahmen nehmen Lehrkräfte die sonderpädagogische und weniger die didaktische Arbeit als zeitweisen oder dauerhaften Schwerpunkt ihrer Arbeit wahr.
Herausforderndes Verhalten beeinflusst oftmals auch das Lernen von Mitschülerinnen und Mitschülern negativ.
Lehrkräfte kommen dann in eine strukturelle Heraus- bis Überforderung, da sie mehrere, sich zum Teil widersprechende Ziele verfolgen wollen und müssen: Sie müssen sich einerseits um den Schüler bzw. die Schülerin kümmern, der bzw. die das herausfordernde Verhalten zeigt („Störungen haben Vorrang“). Neben einer unmittelbaren Reaktion sind oft auch Maßnahmen im Nachgang nötig. Andererseits müssen Lehrkräfte die Entwicklung, das Lernen und die Förderung der Mitschülerinnen und Mitschülern im Blick haben – auch wenn sich deren Förderbedarf nicht ganz so akut äußert.
Beziehungsarbeit und Schülerorientierung als Basis
Wie handelt man nun bei herausforderndem Verhalten?
Die Basis für Erziehen, Lehren und Lernen sind gute Beziehungen:
„Erst wenn ich Beziehung habe, kann ich erziehen. |
Erst wenn ich erziehen kann, kann ich unterrichten.“ |
Es bedarf folglich einer Schulkultur, die auch auf institutioneller Ebenen Beziehungsarbeit anzielt und den Dreischritt Beziehung – Erziehung – Unterricht berücksichtigt.
Dabei helfen eine Orientierung an den zugrundliegenden Bedürfnissen sowie ein Störungsverständnis, nach dem jedes Verhalten einen subjektiven Sinn hat.
© ISB: In Beziehung treten
Haltung und Handlungssicherheit als Grundlage professionellen Handelns
Um angemessen auf herausforderndes Verhalten reagieren zu können, müssen sich die Lehrkräfte mit ihrer professionellen Haltung auseinandersetzen und ihre Handlungssicherheit weiterentwickeln.
Haltung ist Ausdruck individueller und sozial geteilter, „verdichteter“ Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die eng verwoben sind. Als teils bewusste, teils unbewusste subjektive Theorien geben sie Antwort auf Fragen wie z. B.:
- Welches Menschenbild habe ich?
- Welches Verständnis von Erziehung habe ich?
- Was nehme ich als herausforderndes Verhalten wahr?
- Wie erkläre ich mir herausforderndes Verhalten?
- Welche Lehrkraft- bzw. Schülerin-/Schüler-Interaktionen habe ich bei herausforderndem Verhalten als erfolgreich erlebt?
- Was ist mein Rollenverständnis von Lehrkraft-sein?
Handlungssicherheit: Die individuell empfundene berufliche Handlungssicherheit entsteht u.a. aus den Antworten auf folgende Fragen:
- Wer bin ich? – Klarheit über die eigene professionelle Rolle
- Was tue ich? – Klarheit über die eigenen Aufgaben, Ziele und Handlungsoptionen
- Was kann ich? – Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten
Haltungen und Handlungssicherheit bedingen sich gegenseitig: Haltungen filtern Wahrnehmung und steuern Handlungsweisen – wirksame bzw. als erfolgreich wahrgenommene Handlungsweisen prägen Haltungen. In dieser Wechselseitigkeit wird deutlich, warum für nachhaltige Veränderungen immer beide Aspekte in den Blick genommen werden müssen.
Herausforderndes Verhalten als Thema der Schulentwicklung
Da Lehrkräfte im Umgang mit herausforderndem Verhalten nicht isoliert agieren, sondern in die Institution ihrer Schule eingebunden sind, bedingen sich Haltungen und Handlungsweisen systemisch: Welches Verständnis von Erziehung und herausforderndem Verhalten habe ich? Ist dieses kongruent mit dem Kollegium und der Schulleitung? Welche Haltungen prägen mein und unser Handeln? Sind Handlungsweisen wirksam – und meiner und unserer Haltung gemäß?
Genauso wie Lehrkräfte Handlungssicherheit und Haltung als wirkungsvoll und damit sich in ihrer Profession als selbstwirksam erleben, erleben auch Schülerinnen und Schüler Lehrkräfteteams, Kollegium und Schulleitung - „ihre Schule“ - als kompetent im Umgang mit herausforderndem Verhalten – oder eben nicht. Schülerinnen und Schüler nehmen wahr,
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Die erfahrungsbasierten und generalisierten Antworten auf diese Fragen sind ein wesentlicher Teil der Schulkultur. Auf die Zukunft gerichtet prägt diese die Erwartungen – und damit auch das Verhalten von Lehrkräften, Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern. Entsprechend muss auch sie Ziel pädagogischer Schulentwicklung sein.
© ISB: „Beziehung – Erziehung – Unterricht“ als Auftrag der Schulentwicklung
Krisenfestigkeit und Schülerorientierung als Ziele der Schulentwicklung
Für alle Schularten und Schulen ist der Umgang mit herausforderndem Verhalten eine wichtige pädagogische Aufgabe, die immer wieder neu zu lösen ist. Gleichzeitig ist an einer Schulart wie dem Sonderpädagogischen Förderzentrum, an dem pädagogische Krisen qua des Förderbedarfs esE zum Alltag gehören, individuelle und systemische Krisenfestigkeit eine existentielle Anforderung, die Schul- und Unterrichtswirklichkeit prägt und langfristig auch Lehrkräftegesundheit massiv beeinflusst.
Letztlich können alle Maßnahmen der Krisenfestigkeit jedoch nur nachhaltig wirksam werden, wenn sie den Bedarf der jeweiligen Schülerschaft als Ausgangspunkt haben. Verstehens- und bindungsorientierte Pädagogik wirkt präventiv und reduziert Krisen und Interventionsnotwendigkeiten.
Schulentwicklung bei herausforderndem Verhalten hat also immer beides im Blick: Die sonderpädagogischen Bedarfe von Schülerinnen und Schülern und die erzieherische Wirksamkeit von Lehrerinnen und Lehrern.
Die an Schulen entstehenden Entwicklungsbedarfe sind so vielfältig wie die Schulwirklichkeiten. Sie lassen sich in u. a. folgenden Kategorien verorten:
- Prävention – Intervention
- Umsetzbar von einzelner Lehrkraft – Teamorientierung
- Orientiert an konkreter Situation – umfassende Handlungsweise
- Schülerorientierung – Lehrkräfteorientiertheit
- Strukturiertheit – Flexibilität
- Unterricht – Außerunterrichtliches
- Haltungen – Handlungsweisen
- …
Wirksame Schulentwicklungsprozesse schaffen es, ein Netz haltungsbasierter Handlungsweisen zu spannen, welches tragfähig für die komplexen Realitäten herausfordernden Verhaltens ist.
Theorie und Praxis von pädagogischer Schulentwicklung
Theorie und Praxis von pädagogischer Schulentwicklung
Schulentwicklungsprozesse bei herausforderndem Verhalten finden in einem spezifischen – oft sehr sensiblen – Kontext statt. Es geht nie nur um eine inhaltliche oder strukturelle Weiterentwicklung. Immer geht es auch um die Art und Weise, wie Lehrkräfte – gerade im Konflikt – sich selbst verstehen und zu Schülerinnen und Schülern in Beziehung bleiben und gehen.
Dargestellt werden pädagogischen Aspekte (Haltung, Handlungssicherheit, Prävention, Intervention, Bedürfnisorientierung, Teamstrukturen etc.), die erfolgreiche Schulentwickungsprozesse inhaltlich prägen. Außerdem werden Aspekte der klassischen Schulentwicklung (Gatekeeperfunktion von Schulleitung, Steuergruppe, interne Evaluation, Widerstände) auf die Pädagogik bei herausforderndem Verhalten bezogen.
Schulen und ihre Prozesse
Schulen und ihre Prozesse
So unterschiedlich wie die Bedingungen und Notwendigkeiten von Sonderpädagogischen Förderzentren sind, so individuell müssen wirksame Schulentwicklungsprozesse sein. Die gemeinsame Verständigung über Ausgangsbasis, Visionen, Haltungen und Ziele stellt die Grundlage für erfolgreiche und nachhaltige Handlungsweisen dar. Im Kapitel „Schulen und ihre Prozesse“ wird diese Notwendigkeit anhand exemplarischer Schulen dargestellt – wobei auch deutlich wird, wie sehr sich die Ausgangspunkte, Prozesse und etablierten Verfahrensweisen an Schulen unterscheiden können.
Pädagogische Bausteine
Pädagogische Bausteine
Schließlich stellt die Publikation konkrete pädagogische Entwicklungen dar. Eine einheitliche Struktur (Haltungen – Warum tun wir das? – Wer tut was? – Was ist zu beobachten? – Geht es auch anders?) erleichtert es, den titelgebenden Dualismus „Haltung und Handlungssicherheit“ im Einzelfall zu beschreiben. Die Darstellung wird ergänzt durch Audiokommentare von Lehrkräften, Schulleitungen und Schülerinnen und Schülern sowie Praxisdokumente.
Inhaltlich zeigt sich eine große und motivierende Bandbreite: Präventive Maßnahmen zur Förderung eines positiven Schulklimas, Möglichkeiten der konfliktpräventiven Pausengestaltung, Strukturen zur Teamförderung und Unterstützung, deeskalierende Interventionsmöglichkeiten oder verschiedene Realisierungen der Präsenzpädagogik zeigen die Kreativität, mit der Schulen in großer Professionalität und Zugewandtheit zu ihren Schülerinnen und Schülern bei herausforderndem Verhalten agieren.
Dominik Fürhofer
Referent für den Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung
Empfohlene Zitierweise
Empfohlene Zitierweise
Fürhofer, D. (2023): Haltung und Handlungssicherheit – Schulentwicklung bei herausforderndem Verhalten. In: Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (ISB) (Hrsg.), ISB-Info „Fokus Schulentwicklung. Partizipativ – lebendig – innovativ". Verfügbar unter: https://isb-magazin.de/isb-info/isb-info-schulentwicklung/schulentwicklung-bei-herausforderndem-verhalten.