Warum geht es nicht ohne historisch-politische Bildung?

Historisch-politische Bildung als Teil demokratischer Schulentwicklung

Historisch-politische Bildung ist unverzichtbarer Bestandteil demokratischer Schulentwicklung. Sie ergänzt die politische Bildung um eine historische Perspektive und befähigt Schülerinnen und Schüler dazu, sich am demokratischen Diskurs zu beteiligen. Dieser Artikel zeigt anhand unterschiedlicher Beispiele, wie historisch-politische Bildung zur Ausbildung eines soliden Wertefundaments, reflektierter Denkhaltungen und einer offenen, dialogfähigen Persönlichkeit beiträgt und den Aufbau von Demokratiekompetenz fördert.

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Demokratische Schulentwicklung  Lernen über, mit und durch Demokratie

Demokratische Schulentwicklung ist mittlerweile eine stark rezipierte Ausprägung der Schulentwicklung. Alle Modelle und Konzepte, die von der Wissenschaft ebenso wie von Organisationen und Verbänden u. a. im Rahmen staatlich geförderter Programme entwickelt worden sind, haben dabei einen gemeinsamen Kern:  

Sie wollen: 

  • demokratische Strukturen auf allen schulischen Ebenen stärken und ausbauen sowie
  • Demokratiekompetenz – und damit die Fähigkeit, sich an demokratischen Meinungsbildungsprozessen zu beteiligen – bei allen Mitgliedern der Schulgemeinschaft stärken.

Demokratische Schulentwicklung basiert dabei auf einem umfassenden Ansatz, der über das Thematisieren von Demokratie als Herrschaftsform hinausgeht (vgl. Schütze/Hildebrandt, 2006; KMK, 2009/2018). Vielmehr sollen alle an Schule Beteiligten Demokratie als Lebensform erfahren, d. h. als eine Form des respektvollen Umgangs miteinander, mit dem Ziel, Demokratie als Gesellschaftsform zu implementieren:

So können gelernte demokratische Umgangsweisen ebenfalls auf zivilgesellschaftliche Prozesse übertragen und aus positiven Erfahrungen in der Schule Mut geschöpft werden, sich auch außerhalb der Schule einzumischen, sich zu engagieren und mitzugestalten.

Schütze/Hildebrandt, 2006, S. 3

Das Lernen über, aber auch mit und durch Demokratie ist demnach ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Schulentwicklung – und politischer Bildung (vgl. Wenzl/Weber, 2023). Nicht immer verweisen die verschiedenen konzeptuellen Ausprägungen demokratischer Schulentwicklung dabei auf die mit der politischen Bildung eng verwandte historisch-politische Bildung, obwohl gerade sie erhebliches Potenzial für demokratisches Lernen birgt.

Modelle und Konzepte demokratischer Schulentwicklung

Dorothea Schütze und Marcus Hildebrandt entwickelten und erprobten zwischen 2002 und 2006 im Rahmen der Bund-Länder-Kommission „Demokratie lernen und leben“ ein Konzept demokratischer Schulentwicklungdas seither vielfache Resonanz erfahren hat (Schütze/ Hildebrandt, 2006).

Katja Kansteiner-Schänzlin verbindet demokratisches Lernen im Schulentwicklungsprozess mit drei Wirkungsebenen: der Ebene der Institution, der Ebene des Unterrichts sowie der Ebene der Führung im Klassenzimmer (Kansteiner-Schänzlin, 2010).

Eine zahlreiche Kriterien umfassende Konzeption demokratischer Schul- und Unterrichtsentwicklung, die auch die Bedeutung historisch-politischer Bildung berücksichtigt, findet sich im KMK-Beschluss „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ (KMK, 2009/2018, S. 8–10).

Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. (DeGeDe) setzt mit ihrem Preis für demokratische Schulentwicklung einen besonderen Schwerpunkt auf die Kategorien Partizipation und Diversität und benennt verschiedene Entwicklungsbereiche – von der Förderung demokratiebezogener Kompetenzen bis hin zur Lernkultur und zur Kooperation mit außerschulischen Trägern.

Der Kreisjugendring Dachau hat das auch aus Bundesmitteln geförderte Projekt Schule der Demokratie ins Leben gerufen. Im Rahmen dieses Schulentwicklungsprozesses verfolgen die teilnehmenden Schulen das Ziel, auf partizipativem Weg eine Schulverfassung zu entwickeln und demokratische Schulgremien wie den Klassenrat, die Schulversammlung und die SMV zu stärken. Auch Projekttage und Unterrichtsformen, die auf gemeinsames Gestalten und Bewältigen von Aufgaben setzen, sind Bestandteil des Konzepts.

Begriffsdefinition Demokratiekompetenz

Demokratiekompetenz wird im LehrplanPLUS des Fachs Politik und Gesellschaft am Gymnasium folgendermaßen definiert: „Demokratiekompetenz bedeutet, Politik und Gesellschaft zu verstehen und bereit zu sein, verantwortungsbewusst als mündige Bürgerin bzw. mündiger Bürger in der Demokratie mitzuwirken.“ 

Das Modell zur Demokratiekompetenz, das Anna Mauz und Markus Gloe in ihrer Publikation „Demokratiekompetenz bei Service-Learning“ vorstellen, unterscheidet zwischen den Kategorien „praktische Handlungsfähigkeiten“, „Einstellungen und Werte“ sowie „Wissen und kritisches Denken“, denen insgesamt elf Kriterien zugeordnet sind.

KMBek vom 16. August 2017, Az. X.10-BS4400.18-6a.85372, in Kraft getreten mit Wirkung vom 12. September 2017

Was bedeutet historisch-politische Bildung?

Mit dem Fach Geschichte – in all seinen schulartspezifischen Kombinationen – wird die politische Bildung um die historische Dimension erweitert und vertieft. 

Die historische Dimension zeigt sich zuallererst als Dimension der Zeit: Mit dem zeitlichen Abstand, den historische Phänomene gegenüber der Gegenwart haben, ist zunächst eine Distanz verbunden, die sich oft als Erfahrung von Alterität (Andersartigkeit), mitunter auch von Identität äußert. Bei Fragestellungen, die den historischen Hintergrund gegenwärtiger Strukturen und Entwicklungen ausleuchten, erfassen Schülerinnen und Schüler Wandlungsprozesse, Brüche und Kontinuitäten – und erkennen so auch, dass Phänomene ihrer Gegenwart in historischen Zusammenhängen stehen, wandelbar und gestaltbar sind.

Der zeitliche Abstand, der zwischen Vergangenheit und Gegenwart liegt, konfrontiert Individuen wie Gesellschaften aber auch mit der Frage, welche Aspekte der Vergangenheit in der Gegenwart warum und auf welche Weise von Bedeutung sein sollen – kurz: mit der Frage des Erinnerns oder Gedenkens. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, der auf Aushandlungsprozessen verschiedener Akteure – staatlicher wie zivilgesellschaftlicher – beruht und prinzipiell offen ist (vgl. Wüstenberg, 2020, S. 25-28). Am erinnerungspolitischen Diskurs teilzunehmen, bedeutet, die eigenen Werthaltungen offenzulegen und ein begründetes Urteil über die Bedeutung vergangener Phänomene in der und für die Gegenwart zu fällen.  

Zeit und Erinnerung sind demnach Dimensionen, die den Kern historisch-politischer Bildung markieren; zugleich bieten sie vielfältige Anknüpfungspunkte für demokratische Schulentwicklung.

Das Potenzial historisch-politischer Bildung für demokratische Schulentwicklung – drei Beispiele

Dass historisch-politische Bildung demokratische Schulentwicklung sinnvoll begleitet, vertieft und stärkt, zeigt sich auf verschiedenen Ebenen. „Demokratiekompetenz, wie sie Anna Mauz und Markus Gloe verstehen, erfordert die Auseinandersetzung mit historisch-politischen Themen, die sich auf die Kategorien 'Wissen und kritisches Denken', 'Praktische Handlungsfähigkeit' sowie 'Einstellungen und Werte' auswirkt (Mauz/Gloe, 2019, S. 2).“ Drei Beispiele sollen dieses Potenzial historisch-politischer Bildung verdeutlichen.

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Beispiel 1: Demokratiegeschichte(n)

Im Prozess demokratischer Schulentwicklung spielt die Auseinandersetzung mit demokratischen Prozessen und Strukturen an Schulen gewiss eine besondere Rolle. Das beinhaltet ebenso das Wissen um die Geschichte der Demokratie. So sieht beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. (DeGeDe)die Förderung demokratiebezogener Kompetenzen als einen wesentlichen Entwicklungsbereich demokratischer Schulentwicklung an: Demokratische Schulen fördern in besonderem Maße das Verständnis für Geschichte, Institutionen und Verfahren der Demokratie

Wenn Schülerinnen und Schüler mehr über die Geschichte unserer Demokratie erfahren, begegnen ihnen unterschiedliche Versuche, die Demokratie auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands zu erkämpfen: sei es die kurzlebige Mainzer Republik, die 1793 für wenige Monate die Ideale der Französischen Revolution unter dem Schutz französischer Truppen umzusetzen versuchte; sei es die Revolution von 1848/49, die in der frei gewählten Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche und ihrem Verfassungsentwurf kulminierte und damit einen Horizont schuf, an dem sich auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland orientierte.
Die Jugendlichen lernen dabei, dass Demokratie auf Traditionen beruht, dass über Generationen hinweg Menschen unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Freiheit für sie gekämpft haben – und dass sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den westlichen Besatzungszonen auch im Wissen um die Menschheitsverbrechen der nationalsozialistischen Diktatur entstand.  

Demokratiegeschichte bietet jedoch mehr als vertieftes Wissen auf einer fachlichen Ebene. Sie eignet sich ebenso dazu, die Wandelbarkeit und Gestaltbarkeit demokratischer Systeme zu veranschaulichen. Bereits ein Vergleich des Wahlvolks in der attischen Demokratie des 5. Jahrhunderts vor Christus mit den Menschen, die zur Wahl der Paulskirchenversammlung 1848 oder der Weimarer Nationalversammlung 1919 zugelassen waren, zeigt, wie sehr demokratische Systeme Veränderungen unterworfen sind und wie stark sie von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Aushandlungsprozessen geprägt werden. Diese Erkenntnis muss jedoch nicht eine rein historische bleiben: Letztlich bedeutet sie, dass auch die gegenwärtige Form der Demokratie offen für Veränderung ist – und die Schülerinnen und Schüler als Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft ihre Stimme in den Diskurs um die Zukunft der Demokratie einbringen können und sollen.

Zur Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik e. V. (DeGeDe)

Die folgenden Materialien und Lernaufgaben im LehrplanPLUS zum Thema „Demokratie“ bieten verschiedene Anregungen:

Jahrgangsstufe 8 – Realschule

Jahrgangsstufe 9 – Realschule

Unterrichtseinheit zur Weimarer Verfassung: Verfassung der Weimarer Republik

Jahrgangsstufe 10  Gymnasium

Jahrgangsstufe 12 – Gymnasium 

MateriallisteMaterialliste zur Demokratiegeschichte

lllustrierende Aufgabe zu Lernbereich 12.1.1 (gA): Bedeutung der Revolution für die Demokratisierung in Deutschland 

Demokratiegeschichte digital – hilfreiche Links

Historisches Forum Bayern

Das Historische Forum Bayern, ein Portal, das sich insbesondere an Geschichtslehrkräfte richtet, hat in der Rubrik Demokratiegeschichte(n)zahlreiche einschlägige digitale Angebote versammelt, u. a. zur Geschichte der Weimarer Republik, zu Biografien ausgewählter Demokratinnen und Demokraten sowie zu bayerischen Orten der Demokratie.

Bavariathek

Die Bavariathek des Hauses der Bayerischen Geschichte hat mit Schulklassen, W- und P-Seminaren bereits erfolgreiche Projekte zur Demokratiegeschichte durchgeführt, z. B. 

„100 Jahre Frauenwahlrecht“ (2018/2019, Einstein-Gymnasium München). 

und „Revolution in München 1918/19“ (2018/2019, Gymnasium München-Moosach). 

Beide Projekte setzen ausgewählte Aspekte der Demokratiegeschichte in eine spannungsreiche Beziehung zu Phänomenen der Gegenwart.

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Beispiel 2: Migration in Geschichte und Gegenwart

Dass Menschen zu allen Zeiten aus verschiedensten Gründen ihre Heimat verlassen haben, um sich an anderen, teils weit entfernten Orten niederzulassen, ist nicht nur eine zentrale Erkenntnis historischer Migrationsforschung. Sie kann auch das Ergebnis einer Beschäftigung mit Beispielen historischer wie gegenwärtiger Migrationsbewegungen im Schulunterricht sein: Hugenotten und Salzburger Exulanten verließen ihre Heimatländer im 17. und 18. Jahrhundert, weil sie ihren Glauben nicht aufgeben wollten. Einige Deutsche kehrten im 19. Jahrhundert ihrer Heimat den Rücken, weil sie politisch desillusioniert waren, sie ihre Hoffnung auf Demokratisierung mit der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 begraben mussten. Im Zuge der Industrialisierung zogen viele Menschen vom Land in die wachsenden Städte auf der Suche nach Arbeit, ihre massenhafte Verelendung unter schlimmsten Bedingungen wird heute als „Pauperismus“ bezeichnet. Viele Europäer wanderten in die USA aus, wo sie sich ein besseres Leben erhofften. Die Emigration jüdischer Menschen aus NS-Deutschland, aber auch die Deportation von Jüdinnen und Juden zu Erschießungsstätten, Konzentrations- und Vernichtungslagern durch Nationalsozialisten während der Shoah zeigt die unermessliche Grausamkeit des NS-Regimes. Auch die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Osteuropa, die während des Zweiten Weltkriegs im NS-Staat arbeiten mussten, waren Teil der Gewaltmigration im Zuge eines Krieges, der vom NS-Staat als Vernichtungskrieg geführt wurde.

All diese ganz unterschiedlichen Beispiele historischer Migrationsbewegungen öffnen den Blick für geschichtliche Kontexte und Strukturen, aber auch für die Biografien, Hoffnungen und Ängste von Menschen aus vergangenen Epochen und Jahrhunderten. Migration bleibt damit kein rein gegenwärtiges Phänomen, sondern wird im historischen Zusammenhang vertieft. Dies fordert auch der KMK-Beschluss „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ vom 11. Oktober 2018: 

Die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Teilhabe aller Mitglieder und das Miteinander unterschiedlicher Ethnien und Kulturen, gerade in einem Zeitalter der Migration und anderer globaler Verflechtungen, sind eine besondere Aufgabe auch der Schulen. Dazu gehört der aufklärende bewusste und sensible Umgang mit Vielfalt, das Eintreten für Partnerschaft und Solidarität in Europa und in der Welt sowie die Förderung von Empathie, Respekt, Achtung und Toleranz.

(KMK, 2009/2018, S. 2)

Daraus ergeben sich wiederum vielfältige Perspektiven, in denen sich Geschichte und Gegenwart bereichern:

  • Betrachten die Schülerinnen und Schüler die Geschichte ihrer eigenen Familie, können darin Migrationsgeschichte(n) erfahrbar werden, die beispielsweise von Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, sogenannten „Gastarbeitern“ und nicht zuletzt von Kriegsflüchtlingen aus den Jugoslawienkriegen oder dem Syrienkrieg erzählen.
  • Die Frage danach, wie Integration gelingen kann, verbindet einige der historischen Migrationsbewegungen mit einer (gesellschafts-)politischen Aufgabe der Gegenwart – und bietet die Möglichkeit, darüber fundiert zu diskutieren.
  • Ein biografischer Zugang, der auch bei der Beschäftigung mit historischen Quellen Ego-Dokumente in den Mittelpunkt rückt, fördert die Fähigkeit zur Perspektivübernahme.
  • Die Auseinandersetzung mit Migration in Geschichte und Gegenwart kann gut im Format von Projekten erfolgen, in denen sich die Schülerinnen und Schüler in Gruppen zu einem – womöglich selbst gewählten – Schwerpunkt informieren, um anschließend im Plenum übergreifende Fragen, z. B. nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden, Gelingensbedingungen von Integration sowie den Auswirkungen von Gewaltmigration, gemeinsam zu beantworten.
  • Nicht zuletzt bietet die Beschäftigung mit Migration an historischen und gegenwärtigen Beispielen die Möglichkeit, die Bedeutung von Menschenrechten aufzugreifen und dafür zu sensibilisieren.

Migration in Geschichte und Gegenwart – hilfreiche Links

LehrplanPLUS Geschichte

Das Thema „Migration“ ist sowohl im LehrplanPLUS Geschichte der Realschule als auch Gymnasium verankert.

Lernbereich 10.6: Längsschnitt „Migration in der Geschichte“ (ca. 5 Stunden)

Lernbereich 11.2: Längsschnitt „Migration in Bayern von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert (ca. 12 Stunden)

Lehrerhandreichung zur Landesausstellung „Goodbye Bayern – Grüß Gott Amerika. Auswanderung aus Bayern seit 1683

Die Lehrerhandreichung zur Landesausstellung Goodbye Bayern – Grüß Gott Amerika. Auswanderung aus Bayern seit 1683, die das Haus der Bayerischen Geschichte 2004 konzipiert hat, beinhaltet reichhaltiges, im Unterricht einsetzbares Quellenmaterial.

Höredition „Die Quellen sprechen“ zur Shoah 1933-1945

Die Höredition „Die Quellen sprechen“ wurde vom Bayerischen Rundfunk in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte konzipiert. Dadurch, dass Ausschnitte aus der Quellensammlung „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945“ von Zeitzeugen und von Schauspielern gelesen werden, entsteht eine Vielfalt an historischen Stimmen zur Shoah. Auf der Homepage der Höredition „Die Quellen sprechen“ lassen sich nicht nur die vorgetragenen Quellen anhören, auch Interviews mit Historikerinnen und Historikern zur europäischen Dimension des Holocaust und Gespräche mit Zeitzeugen ergänzen das Projekt, das mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet wurde.

Zwangsarbeit 1939 bis 1945

Auf der Homepage „Zwangsarbeit 1939 – 1945. Erinnerungen und Geschichte“  finden sich rund 600 Audiodateien und Video-Interviews mit den Menschen, die als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter für die NS-Diktatur arbeiten mussten.

Unterrichtsmaterialien des Historischen Forums zu Flucht und Vertreibung

Zahlreiche Unterrichtsmaterialien zu Flucht und Vertreibung, aber auch zum Ankommen und zur Integration in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft befinden sich auf dem Historischen Forum. Sie wurden vom Arbeitskreis „Kultur, Geschichte, Schicksal und Leistung deutscher Heimatvertriebener, Flüchtlinge und Spätaussiedler“ erarbeitet, dem auch Vertreter zahlreicher Landsmannschaften angehören.

Sudetendeutsches Museum in München

Das Sudetendeutsche Museum in München eignet sich als außerschulischer Lernort zur Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung in den böhmischen Ländern ebenfalls gut, um mit Schülerinnen und Schüler verschiedene Aspekte von Flucht und Vertreibung differenziert zu betrachten.

Theaterprojekt „Gleis 11“ – Interviews mit „Gastarbeitern“

Den sogenannten „Gastarbeitern“, die seit 1955 zu Tausenden an Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs ankamen, widmeten Christine Umpfenbach und Paul Brodowsky 2010 ein gleichnamiges Theaterprojekt. Zahlreiche Interviews mit den Menschen – Männern wie Frauen –, die sich auf die Reise in die Bundesrepublik Deutschland machten, um dort zu arbeiten, sind auf den Seiten des Hauses der Bayerischen Geschichte abrufbar. Zugleich wird das Theaterprojekt „Gleis 11“, das auch am historischen Ort des zur Ankunftshalle umfunktionierten Luftschutzbunkers spielt, dokumentiert.

Beispiel 3: Geschichte erinnern

„Erinnern ist ein Prozess, der in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Zusammenhängen Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft bezieht.“

(KMK, 2014, S. 3)

Diese Definition zeigt, warum die reflektierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen des Erinnerns integraler Bestandteil historisch-politischer Bildung ist. Woran sich eine Gesellschaft, woran sich Individuen erinnern – auch: was sie bewusst oder unbewusst dabei vergessen –, und wie sie das tun, gewährt Einblicke in ihr Verständnis von Gegenwart und ihre Vorstellung von Zukunft. Nicht zuletzt deshalb steht der Umgang mit der jeweiligen Kolonialgeschichte aktuell in einigen Ländern in der Diskussion.

Die Erinnerung an Vergangenes in schulischen Projekten und im Fachunterricht zu thematisieren und zu reflektieren, ist aus einer Vielzahl von Gründen auch für die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler im Rahmen demokratischer Schulentwicklung bedeutsam:

  • Die Schülerinnen und Schüler werden dazu befähigt, an aktuellen gesellschaftlichen wie politischen Diskursen zu partizipieren. Fragen, die sich dabei im Zusammenhang mit der Erinnerung an Holocaust und Shoah stellen, sind z. B.: Wie kann angesichts des Endes der Zeitzeugenschaft heute an Holocaust und Shoah angemessen erinnert werden? Welche Rolle spielen digitale Formate dabei, wo liegen ihre Grenzen, wo ihre Chancen?
  • Die kritische Auseinandersetzung mit diversen Formen des Erinnerns – z. B. Denkmälern in Erinnerung an die Kolonialzeit – ist ohne den Einbezug unterschiedlicher Stimmen und damit verschiedener, auch konträrer Perspektiven nicht denkbar. Dadurch bauen die Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeit zur Perspektivübernahme aus und lernen zugleich, offen für die Argumente und Sichtweisen anderer Teilnehmer im demokratischen Diskurs zu sein.
  • Da sie Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse ist, ändert sich die Erinnerung an Vergangenes. Anders gewendet bedeutet das auch, dass Erinnerung gestaltbar ist – und jede und jeder Einzelne sich auf unterschiedlichen Ebenen in diesen Prozess einbringen kann. Das gilt für die Frage, woran die Straßennamen im Heimatort erinnern, ebenso wie für die Frage, an welche Aspekte aus ihrer eigenen Geschichte die Schule sich in welcher Form erinnert bzw. erinnern möchte. Im Rahmen demokratischer Schulentwicklung nehmen die Schülerinnen und Schüler aktiv an diesem Diskurs teil und übernehmen auch bei der Umsetzung eigener Ideen Verantwortung (vgl. Milbradt/Heinze/König, 2018, S. 8).

© Wenzl; oben links: Spurensuche Berliner Mauer; rechts: Was geht Auschwitz uns heute noch an?; unten links: Garten des Exils, Jüdisches Museum Berlin; rechts: Dokumentation Oktoberfestattentat 

Geschichte erinnern – hilfreiche Links und Anregungen für Projekte

Geschichte erinnern – ein Lernbereich im LehrplanPLUS Geschichte der Jahrgangsstufe 11

Geschichte erinnern“ – so lautet auch der Titel des ersten Lernbereichs im LehrplanPLUS Geschichte in Jahrgangsstufe 11 des bayerischen Gymnasiums, der u. a. den Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte, die Erinnerung an Holocaust bzw. Shoah auch in digitalen Formaten sowie die Gefahren durch manipulative Geschichtsvermittlung aufgreift. 

Im Serviceteil des Lehrplans befindet sich eine Lernaufgabe zur öffentlichen Erinnerung an Holocaust bzw. Shoah.

Die Erinnerung an Christoph Kolumbus – ein Beispiel für kompetenzorientiertes Unterrichten

Im Video Kompetenzorientiert Geschichte unterrichten (Achtung: Mit Klick auf diesen Link verlassen Sie diese Seite und gelangen zu YOUTUBE. Auf dieser externen Seite werden Werbeinhalte eingeblendet und Daten abgerufen.) zeigt die PH Zürich ein Unterrichtsprojekt in der Sekundarstufe I, das die Erinnerung an Christoph Kolumbus zum Thema hat. Die Schülerinnen und Schüler sollen in Gruppen ein Denkmal erstellen, das an Kolumbusʼ Ankunft in Amerika erinnert; die unterschiedlichen Ergebnisse der Jugendlichen dokumentieren eine eingehende, reflektierte und differenzierte Auseinandersetzung.

Jewish Traces: Ein Projekt zu Spuren der jüdischen Augsburgerinnen und Augsburger

Am Maria-Ward-Gymnasium Augsburg begann 2021 ein Projekt, das sich der Erinnerung an Augsburger Jüdinnen und Juden widmet. Die Schülerinnen einer neunten Klasse konzipierten einen Stadtführung, die die „Jewish Traces“, die Spuren der jüdischen Augsburgerinnen und Augsburger und ihre Schicksale nachzeichnet. Jewish Traces wurde u. a. mit dem Preis des Schülerlandeswettbewerbs „Erinnerungszeichen“ 2022 ausgezeichnet.

Fazit

Historisch-politische Bildung ist integraler Bestandteil demokratischer Schulentwicklung: Sie befähigt Schülerinnen und Schüler dazu, Demokratie als Herrschafts-, Regierungs- und Gesellschaftsform wahrzunehmen, die auf historischen Wurzeln ruht, wandlungsfähig und gestaltungsoffen ist. Sie erleichtert es Jugendlichen, an aktuellen politischen Diskursen fundiert und reflektiert teilzunehmen. Sie trägt schließlich zur Entwicklung einer Persönlichkeit bei, die es ermöglicht, sich in einer pluralistischen Öffentlichkeit auf der Basis demokratischer Werte einzubringen.

Dr. Monika Müller
Referentin für Geschichte (Gymnasium)


Empfohlene Zitierweise

Müller, M. (2023): Historisch-politische Bildung als Teil demokratischer Schulentwicklung. In: Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München (ISB) (Hrsg.), ISB-Info „Fokus Schulentwicklung". Verfügbar unter: https://isb-magazin.de/isb-info/isb-info-schulentwicklung/politische-bildung-schulentwicklung.

Literaturverzeichnis

Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst (Hrsg.) (2017): Gesamtkonzept für die Politische Bildung an bayerischen Schulen. Abrufbar unter https://www.isb.bayern.de/grundsatzabteilung/paedagogische-grundsatzfragen/politische-bildung/gesamtkonzept-politische-bildung/ (Stand: 25. August 2023).

Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik (o. a. J.): Entwicklungsbereiche demokratischer Schulentwicklung, verfügbar unter https://degede.de/project/demokratieerleben-der-preis-fuer-demokratische-schulentwicklung-2023/#entwicklungsbereiche (Stand: 29. August 2023).

Kansteiner-Schänzlin, K. (2010): Demokratisches Lernen. In: Bohl, Th., Helsper, W., Holtappels, H. G. & Schelle, C. (Hrsg.) (2010): Schulentwicklung. Theorie – Forschungsbefunde – Entwicklungsprozesse – Methodenrepertoire, Bad Heilbrunn, S. 349–352.

KMK (2018): Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der KMK vom 6. März 2009 i. d. F. vom 11. Oktober 2018, verfügbar unter https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUnd Aktuelles/2018/Beschluss_Demokratieerziehung.pdf (Stand: 29. August 2023).

KMK (2014): Erinnern für die Zukunft. Empfehlungen zur Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung in der Schule. Beschluss der KMK vom 11. Dezember 2014, verfügbar unter https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen _beschluesse/2014/2014_12_11-Erinnern_fuer-die-Zukunft.pdf (Stand: 29. August 2023).

Mauz, A. & Gloe, M. (2019): Demokratiekompetenz bei Service-Learning. Modellentwicklung und Anregungen für die Praxis, Berlin: Stiftung Lernen durch Engagement, verfügbar unter https://www.servicelearning.de/fileadmin/ Redaktion/Dokumente/Stiftung/Eigene_Publikationen/Stiftung_Lernen_durch_Engagement_2019_Mauz_Gloe_Demokratiekompetenz.pdf (Stand: 29. August 2023).

Milbradt, B., Heinze, F. & König, F. (2018): Politische Bildung in einer Welt des Umbruchs. In: Impulse. Das Forschungsmagazin des Deutschen Jugendinstituts, Nr. 119, S. 4–9, verfügbar unter https://www.dji.de/ veroeffentlichungen/literatursuche/detailansicht/literatur/26268-dji-impulse-119-demokratie-lernen.html (Stand: 30. August 2023).

Schütze, D. & Hildebrandt, M. (2006): Demokratische Schulentwicklung. Partizipations- und Aushandlungsansätze im Berliner BLK-Vorhaben „Demokratie lernen und leben“. Begleitheft zum Praxisbaukasten, Berlin, verfügbar unter https://ide-berlin.org/wp-content/uploads/2018/04/SchuetzeHildebrandtDemokratischeSchulentwicklung.pdf (Stand: 29. August 2023).

Wenzl, A. & Weber, A. (2023): Schule demokratisch gestalten & leben. Vortrag zur demokratischen Schulentwicklung im Rahmen einer RLFB zur Wertebildung (ALP, Mai 2023). 

Wüstenberg, J. (2020): Zivilgesellschaft und Erinnerungspolitik in Deutschland seit 1945, Bonn.

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Titelbild: istock.com/ANGHI