Essay:

Eine Woche in der Bewährungsklasse

11.12.2023, kurz nach 8 Uhr

Für Hans beginnt die vorletzte Schulwoche vor den Weihnachtsferien 2023 in einem kleinen Raum im Gebäudeteil der Kolping-Berufsschule Würzburg. Er ist neben Herrn Maurer, dem Tagesstättenleiter, an diesem Morgen die einzige Person in einem Zimmer, das lediglich drei Arbeitsplätze für Schülerinnen und Schüler und ein Pult für Lehrkräfte mit Telefon, eine Tafel und ein kleines Regal enthält. Hans ist in der Bewährungsklasse der Würzburger Adolph-Kolping-Schule „gelandet“.

BEWÄHRUNGSKLASSE: „AUSZEIT“ VOM KOMPLETTANGEBOT

Üblicherweise sitzt Hans zusammen mit neun weiteren Mitschülerinnen und Mitschülern in der Klasse 7/8 des Förderzentrums mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, in welches eine Heilpädagogische Tagesstätte integriert ist. In der Klasse trägt Frau Volk gerade bei Kerzenschein eine weihnachtliche Geschichte vor. Im Anschluss, bei der gemeinsamen Wochenplanung, wird die Klassenleiterin den anderen Jugendlichen berichten, dass Hans in dieser Woche nicht in der Klasse sein wird.

Während in der Klasse 7/8 der montägliche Morgenstuhlkreis in den Deutschunterricht mündet, bespricht Herr Maurer mit Hans, welche individuellen Ziele für ihn in dieser Woche im Vordergrund stehen.

BEWÄHRUNGSKLASSE: HALT UND STRUKTUR IN DER KRISE

Hans hatte in den Tagen zuvor mehrfach Mitschülerinnen und Mitschüler seiner Klasse unter Druck gesetzt und auch körperlich angegangen. Als vorgestern ein Gespräch mit dem Schulleiter anstand, verließ er zuvor unerlaubt die Schule. Daraufhin entschied das Klassenteam zusammen mit der Einrichtungsleitung, dass Hans zwar einen verschärften Verweis erhalten wird, man jedoch trotz der gravierenden Vorkommnisse gegenwärtig keinen Unterrichtsausschluss aussprechen möchte. Dies liegt sicher auch daran, dass Hans bis vor wenigen Wochen auf einem sehr guten Weg war. Dann ist jedoch der neue Partner der Mutter zuhause eingezogen, der sich mit Hans doch sehr schwer tut. Hans reagierte zunächst mit Rückzug und Verweigerung, inzwischen haben aber sich seine „alten Verhaltensmuster“ wieder durchgesetzt und machen eine Förderung im Klassen- bzw. Gruppenrahmen sehr schwer.

BEWÄHRUNGSKLASSE: ES GIBT IMMER EINEN WEG ZURÜCK

Nun hat man die Rahmenbedingungen für Hans geändert. Bis er wieder in die Klasse zurück kann (was er unbedingt möchte, denn in der Vorweihnachtszeit stehen auch viele schöne Aktionen an, wie er vom Vorjahr weiß), muss er sich bewähren und die sog. „Bewährungsklasse“ der Adolph-Kolping-Schule besuchen.

BEWÄHRUNGSKLASSE: UNSER ANGEBOT AN DEINE VERANTWORTUNG

Im Gespräch mit Herrn Maurer zeigt Hans zwar ein gewisses Verständnis für die formulierten individuellen Ziele, jedoch noch keine Bereitschaft, die von Frau Volk bereitgelegten Arbeitsaufträge in den Hauptfächern zu beginnen. Gegen 9 Uhr beginnt er murrend mit seinen Matheaufgaben. Herr Maurer hatte ihn nach einigen Motivationsversuchen zunächst in Ruhe gelassen. Lediglich einmal hatte er vor wenigen Minuten in ruhigem und freundlichem Ton darauf hingewiesen, dass ein Ziel auch die Erledigung der Arbeitsaufträge betrifft. Bis zur Pause, die bewusst nicht zeitgleich mit der großen Pause aller anderen Klassen terminiert ist, hat Hans immerhin die Matheaufgaben beendet und geht mit Herrn Maurer auf den leerstehenden Pausenhof, um ein wenig auf den Basketballkorb zu werfen. Nach der Hälfte der Pausenzeit kommt Frau Fährer. Sie wird den Rest des Vormittags mit Hans verbringen.

BEWÄHRUNGSKLASSE: GROSSE KRISE – KLEINE ZIELE

Herr Maurer hatte vor der Pause die Ziele bewertet. In der Regel geschieht dies gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern der Bewährungsklassen, doch Hans „hatte heute darauf keinen Bock“. Ein wenig war er dann schon überrascht, dass er zwei positive Smileys (für Pünktlichkeit und Umgangsformen) erhielt und einen Durchschnittswert (für die Erledigung der Arbeitsaufträge). Gegen 10.45 Uhr wird Hans von Frau Fährer aufgefordert, seinen aktuellen Arbeitsauftrag zu beenden und zusammenzupacken. Erneut werden die Ziele bewertet, bevor es gemeinsam zu Fuß zum nahegelegenen Bäcker geht. Hans erfährt bei einem Salamibrötchen, dass schon morgen ein weiterer Schüler in die Bewährungsklasse kommen wird.

BEWÄHRUNGSKLASSE: KONSEQUENZ JA – BEZIEHUNGSABBRUCH NEIN

Oliver aus der 9. Klasse hat dort in den letzten Tagen die meisten Unterrichtsangebote verweigert und in der Auseinandersetzung mit diesem Problem Mitschülerinnen und Mitschüler und Lehrkräfte zum Teil massiv beleidigt. Er übt einen enormen Einfluss auf einige Mitschülerinnen und Mitschüler aus, die gerade recht stabil sind und sich zunehmend mit Aufgaben auf Quali-Niveau beschäftigen. Klassenteam und Leitung wollen den positiven Prozess in der Klasse nicht gefährden. Oliver soll mit der Maßnahme „die Bühne genommen werden“. Gleichzeitig will man ihn täglich sehen und ihm in seiner Krisensituation eine verlässliche Struktur geben. Vielleicht gelingt das Vorhaben und die bisherigen Beziehungen und Bemühungen bewähren sich.

 „Gut, dann bin ich nicht mehr alleine“, meint Hans, bevor er sich um 11.20 Uhr in die Straßenbahn setzt und seinen ersten Tag in der Bewährungsklasse beendet.

Am Dienstag hat Frau Schulz zunächst einen ruhigen Start in der Bewährungsklasse: Hans hat von einigen Mitschülern erfahren, dass die Klasse in der nächsten Woche einen Besuch der Eisbahn plant und vorher auf den Weihnachtsmarkt gehen wird. Er macht sich Hoffnungen dabei zu sein und arbeitet recht zügig und konzentriert. Oliver war deutlich zu spät gekommen. Er hat gestern bis spät mit seiner Clique gefeiert und ist schnell an seinem Tisch eingeschlafen. Hans, der wie viele anderen ein wenig zu Oliver aufschaut, hatte zuvor versucht ihn mit einem coolen Spruch zu begrüßen. „Halt’s Maul“ hatte Oliver für ihn noch parat, dann schlief er ein. In der Pause ist Frau Fährer mit Hans, der drei positive Smileys erhalten hat, alleine draußen. Oliver schläft noch, seine Ziele wurden noch nicht bewertet. In den beiden anderen Stunden ist dienstags immer Herr Stephan in der Bewährungsklasse. Er ist auch der Klassenlehrer in der 9. Klasse. Während Hans weiterhin gut arbeitet, sucht Herr Stephan das Gespräch mit Oliver

BEWÄHRUNGSKLASSE: CHANCE FÜR ANDERE BEGEGNUNGEN IN DER KRISE

Die beiden haben im dritten gemeinsamen Jahr einen guten Draht zueinander. Neben dem Einfluss durch Olivers Clique wird im Gespräch ein weiteres Problem offensichtlich. Oliver setzt sich im Hinblick auf den Schulabschluss enorm unter Druck und kann die anstehenden Aufgaben (z.B. in der häuslichen Vorbereitung) nicht mit seinem sonstigen Leben in Einklang bleiben. Da er auf der anderen Seite im praktischen Bereich große Stärken hat, macht Herr Stephan zur Beruhigung der Situation einen Vorschlag: Oliver muss auf jeden Fall die nächsten drei Tage in der Bewährungsklasse verbleiben. Herr Stephan will sich jedoch gleich heute darum kümmern, ob Oliver in der nächsten Woche noch einmal ein Praktikum im Kindergarten machen kann, in dem er schon im Herbst zwei Wochen erfolgreich tätig war. Allerdings müsse dazu die Bewährungsklasse ab jetzt „laufen“. Den abschließenden Bäckerbesuch macht Oliver schon etwas entspannter mit, die Ziele werden erst ab morgen bewertet.

Mittwoch und Donnerstag verlaufen recht unspektakulär. Hans hat sich mit der Situation arrangiert, der kleine Bezugsrahmen beruhigt ihn und Oliver hat ihm sogar schon bei den Matheaufgaben geholfen. „Ist doch Baby“, meint der und rechnet ihm eine Prozentaufgabe vor. Frau Fährer behält es für sich, dass der Dreisatz fehlerhaft berechnet ist. Sie wird der Klassenlehrerin, welche die erledigten Aufgaben kontrollieren und neue für den nächsten Bewährungstag stellen wird, später informieren. Herr Stephan hat tatsächlich erreicht, dass Oliver in der Vorweihnachtswoche noch ein Praktikum machen kann. Er ist dort beliebt und man vertraut ihm, dass es wieder klappt.

BEWÄHRUNGSKLASSE: KLEINE GRUPPE – GROSSER SPIELRAUM

Am Freitagmorgen ist es zunächst vorbei mit der vorweihnachtlichen Harmonie. Hans, der sein Weihnachtsgeschenk – ein Smartphone – schon vor einigen Tagen von der Mutter bekommen hatte, damit er ihrem neuen Partner gegenüber freundlicher ist, hat über Whatsapp einen Mitschüler beleidigt und nun Drohungen von dessen großem Bruder und seiner Clique erhalten. Er kommt aufgelöst und empört in die Schule. Er will diesen Bruder anzeigen und bittet Herrn Maurer, ihn dabei zu unterstützen. Außerdem werde er dieses teure Handy niemals mehr in der Schule abgeben. Als er hört, dass Herr Maurer bei allem Verständnis für die schwierige Situation die Mutter informieren wird, wenn er sein Handy nicht - wie an der Schule üblich - vor dem Unterricht abgibt, steht eine Eskalation kurz bevor. Oliver ist es dann, der die Situation unfreiwillig löst. „Halts Maul und gib Dein Handy ab – ich will Mathe machen!“. Hans folgt dem Appell, verkriecht sich auf seinem Platz und zieht die Kapuze weit über den Kopf. Herr Maurer lässt ihm Zeit, klopft Oliver kurz auf die Schulter und will gerade einen Blick in die Zeitung werfen. Da klingelt das Telefon: Frau Glöckner von der Klasse 8/9 fragt, ob Jasmine kurzfristig in die Bewährungsklasse könne. Sie sei gerade erst zur Schule gekommen, direkt in die Klasse gestürmt und wollte Ken eine herunterhauen. Frau Glöckner und ihr Tagesstättenkollege konnten sie davon abhalten. 

10 Minuten später: Jasmine sitzt inzwischen im Besprechungszimmer beim Schulleiter und will mit niemandem reden. Frau Fährer kommt vorbei, sie ist ohnehin in den nächsten beiden Stunden in der Bewährungsklasse. Sie bittet Jasmine einfach mitzukommen, sie müsse dort auch nicht arbeiten und könne ihr später auf dem Weg zum Bäcker alles erzählen. Sie ahnt schon, dass es Liebeskummer ist, was Jasmine so bewegt. Wahrscheinlich hat Jasmine gestern in der Whatsapp-Gruppe, zu der auch Ken gehört, wieder ausführlich darüber berichtet und einen dummen Kommentar von Ken erhalten.

BEWÄHRUNGSKLASSE: SCHAFFT FREIRAUM FÜR STABILE PROZESSE

Um 11.30 Uhr sitzen das Leitungsteam und die Klassenlehrerinnen von Hans und Jasmine kurz zusammen und beraten, wie es nächste Woche weitergehen soll. Oliver hat sich schon verabschiedet. Er wird bis nächsten Donnerstag sein Praktikum machen und am Freitag zum Weihnachtsabschluss nochmal in die Schule kommen. Bei Jasmine ist man sich schnell einig. Sie soll zunächst am Montag in die Bewährungsklasse gehen. Dann kann man in Ruhe versuchen, die Anteile von Ken und anderen Mitschülerinnen und Mitschülern an der Situation zu klären. Schwieriger fällt die Entscheidung bei Hans. Schließlich entscheidet man sich für ein Stufenmodell. Hans soll am Montag nochmal in der Bewährungsklasse beschult werden. Wenn dies klappt, dann kann er am Dienstag – und dann bis 13.45 Uhr also einschließlich Mittagessen – wieder in seine Klasse gehen. Am Mittwoch kann die Hausaufgabenzeit bis 14.30 Uhr im Klassenverband dazukommen. Wenn auch am Mittwoch alles klappt, dann sind Eisbahn und Weihnachtsmarktbesuch am Donnerstag doch noch möglich. Hans hätte sich bewährt.

Am Freitagnachmittag putzt Frau Madlicic auch in der Bewährungsklasse. Auf Jasmines Platz findet sie ein Dina4-Blatt, auf dem Jasmine wohl eine Entschuldigung an Frau Glöckner begonnen hat. Im Papierkorb liegen noch einige zerrissene Blätter von Hans. „Scheiß Kolpingschule“ steht auf einem. Wahrscheinlich hat er es schon am Montag geschrieben und heute dann doch weggeschmissen.