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Wedewardt (2022) versteht unter Bedürfnisorientierung eine innere Haltung, die auf folgenden Grundannahmen fußt: 

  • Jeder Mensch hat Bedürfnisse – körperliche und seelische –, darf mit seinen Bedürfnissen sein und wird mit seinen Bedürfnissen gesehen.
  • Jedes gezeigte Verhalten ist der Versuch, sich ein oder mehrere Bedürfnisse zu erfüllen, und hat deshalb seinen je eigenen Sinn- auch wenn dieser zuerst nicht ersichtlich oder nur schwer nachzuvollziehen ist.
  • Wenn Menschen aufeinandertreffen, treffen gleichzeitig auch verschiedene Bedürfnisse (z.B. des Kindes und des Erwachsenen) aufeinander. Ziel ist es, diese gleichwertig zu sehen, zu versprachlichen und auszuhandeln.

Bedürfnisorientierung bedeutet deshalb, sich auf einen ständigen Reflexionsprozess einzulassen, bei dem nicht nur die Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen der Kinder und Jugendlichen im Fokus stehen, sondern auch die der Erwachsenen. 

Bedürfnisorientierung bedeutet nicht, dass dem Gegenüber alle Wünsche erfüllt werden. Denn es besteht ein Unterschied zwischen Wünschen und echten Bedürfnissen. Ziel ist es, die Bedürfnisse hinter einem Wunsch zu verstehen. Auch wenn ein Wunsch ausgeschlagen wird, ist es Aufgabe der Erwachsenen, die dadurch entstehenden Gefühle zu begleiten und die tatsächlichen Bedürfnisse zu benennen.


Bedürfnisorientierung und herausforderndes Verhalten

Im Hinblick auf den Umgang mit herausforderndem Verhalten beleuchten wir nachfolgend nur die Schülerseite.

Herausforderndes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen kann als markantes Signal und dringliche Botschaft gedeutet werden, dass individuelle Bedürfnisse von den Mitmenschen langfristig oder akut weder gesehen noch befriedigt werden.

​Im Umgang mit herausforderndem Verhalten ist zunächst ein Blick hinter die „Verhaltensfassade“ unerlässlich, d.h. zu fragen: 

  • Warum zeigt der oder die Jugendliche genau dieses Verhalten? (Beispiel: Warum stört er oder sie durch Tierlaute den Unterricht?)
  • Welchen Sinn macht dieses Verhalten in dem Moment für den Jugendlichen – auch wenn es für die Außenstehenden scheinbar sinnlos oder unsinnig erscheint?
  • ​Welches unbefriedigte Bedürfnis steckt hinter diesem Verhalten?
  • ​Kann bzw. wie kann dieses offene Bedürfnis gestillt werden?
  • ​Kann das Bedürfnis im Moment aufgeschoben werden bzw. wie lange?

Parallel ist es im pädagogischen Alltag notwendig, nicht nur die oben genannten Fragen im Blick zu haben, sondern auch folgende: 

  • Wo ist die Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen gegenwärtig unvereinbar mit der Gesamtsituation?
  • Wie kann dem oder der einzelnen Lernenden bewusst gemacht werden, dass sein oder ihr Bedürfnis gesehen, jedoch nicht zum aktuellen Zeitpunkt befriedigt werden kann?

Im Umgang mit herausforderndem Verhalten konkretisiert sich Bedürfnisorientierung oft im Widerspruch zu anderen Prämissen der Pädagogik - beispielhaft in folgenden Auseinandersetzungen.


Gerade im Konflikt gilt: Statt jedem das Gleiche jedem das, was er braucht.


Bedürfnisorientierung und Schulentwicklung

Bedürfnisorientierung kann einerseits auf das Handeln in einer konkreten Situation bezogen sein. Der Schule kommt vor dem Hintergrund des oben dargestellten Spannungsfeldes die Aufgabe zu, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Lehrkräfte ihre jeweils eigene Haltung reflektieren können (z.B. Supervision oder Teamzeiten). 

Schulleitung hat dann die Aufgabe, eine Kultur der Bedürfnisorientierung gerade auch in Konfliktsituationen mit Schülerinnen oder Schülern zu unterstützen. Dies bedeutet auch das Ende allgemeingültiger Sanktionskataloge und Wenn-Dann-Automatismen. Indem Lehrkräfte jedoch spüren, dass bedürfnisorientierte Erziehungsmaßnahmen und ggf. auch Sanktionen passgenauer sind, gewinnen sie gerade dadurch erzieherische Wirksamkeit und  tatsächliche Handlungssicherheit.

Andererseits kann ein Kollegium über den einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin hinaus die Kinder und Jugendlichen "seiner" Schule in "seinem" Einzugsgebiet in den Blick nehmen und generalisierend besondere Bedürfnisse feststellen.

Die Feststellung offensichtlicher und nicht-offensichtlicher Bedürfnisse durch die Beantwortung der Frage "Was brauchen unsere Kinder und Jugendlichen, damit sie hier leben und lernen können?" stellt den ersten Schritt dar.

Das Einlösen dieser Bedarfe kann sich dann in  allen Bereichen von Schulentwicklung niederschlagen:

  • Einrichten eines Schulfrühstücks, um Primärbedürfnisse zu stillen
  • Gestaltung von Schule als "möglichst sicheren Raum", um traumasensibel zu agieren
  • Umfassende differenzierende Unterrichtsformen, um bei großer Heterogenität Selbstwirksamkeit von Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen
  • ...

Belege

Zugehörige pädagogische Bausteine:

Sit in

Vereinte Erwachsenen-Präsenz als gewaltloser Widerstand.

Krisengespräch

​Strukturierte Krisenbewältigung mit Schülerinnen und Schülern.

Gestaltete Frühbetreuung

Ankommen, Grundbedürfnisse sichern, Wohlfühlen

Dieser Artikel ist ein Baustein der ISB-Veröffentlichung

Haltung und Handlungssicherheit –

Schulentwicklung bei herausforderndem Verhalten.

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Titelbild: © ISB. Bedürfnisorientierung. Grafik: Rosalie Heinen